Jamal, Salih: Orpheus

Gleich zu Beginn betreten wir eine fast surreale, beklemmende und ausgesprochen melancholische, emotional intensive und kaum aushaltbare Welt.
Es ist die Innenwelt des Ich-Erzählers Orpheus.

Ein Bombardement an Bildern, Vergleichen, Metaphern und Adjektiven schlägt uns entgegen. Es ist nicht zu übersehen, dass diese Überschwemmung mit Poesie den unermesslichen Schmerz und den psychischen Überlebenskampf des verzweifelten Orpheus veranschaulicht und symbolisiert.
Ein „zu viel“, das kaum zu ertragen ist.

Wir begegnen hier in dieser Düsterkeit Orpheus, dem Sänger, der sich seit vier Monaten in einem depressiven Zustand befindet, weil er seine geliebte Partnerin Nienke schmerzlich vermisst.

Dann lernen wir nach und nach die wohlhabende und einflussreiche Familie von Orpheus kennen:
Den einschüchternden, skrupellosen und unberechenbaren Großvater, genannt „Zeus“, knallharter Firmenchef und Patriarch der Familie, sowie seine beiden für die schönen Künste offenen, gebildeten und belesenen Söhne, die jeder auf seine Art eine phantasievolle, unkonventionelle und musische Ader haben.
Der eine ist Orpheus’ Vater, ein gutmütiger, angepasster und feinfühliger Mann und der andere ist der für den Ich-Erzähler bedeutsame Onkel Dino, ein unbeschwerter und optimistischer Lebemann und Geschäftsführer einer Bar.
Onkel Dino gibt Orpheus wie ein Leuchtturm Orientierung und erweckte schon in Kindertagen seine Liebe zur Musik.
Orpheus‘ Mutter ist bei der Geburt des um sechs Jahre jüngeren Bruders Ari verstorben und die Großmutter Hera, eine „eiserne Lady“, sowie die beiden Brüder und der verschwundene Vater des Großvaters bleiben erstmal im Hintergrund. Wir werden sie erst im weiteren Verlauf kennenlernen.

Schon hier, noch ganz am Anfang des Buches, stolpere ich über ein schönes und eindrückliches Bild: „…und dichten Brauen, die wie Markisen über seine Augen hingen.“ (S. 23).

Im dritten Kapitel schwelgt Orpheus in Erinnerungen an die letzten Stunden mit seiner geliebten Nienke, die als Anwältin in der Rechtsabteilung von Großvater Zeus‘ Unternehmen angestellt ist.

Er erzählt auch von seiner damaligen Befürchtung, dass sich Nienke leichtsinnig in Gefahr bringen und deshalb verschwinden könnte – wie einst der Urgroßvater, der Familienhund und so manch anderer Bewohner des Dorfes.

Wir erfahren hier, dass Nienke aufgrund von mehreren Verdachtsmomenten und Indizien ihren ehemaligen Chef bei der Kripo dazu bringen möchte, die Ermittlungen in einem Jahrzehnte alten Fall um eine ermordete junge Mutter und ein vermisstes Kind, mit dem der Großvater Zeus in Verbindung gebracht werden kann, wieder aufzunehmen, um diesen „ans Messer zu liefern“ und dadurch endlich und endgültig unschädlich zu machen.

Aber kurz bevor Nienke, die ehemalige Polizistin und jetzige Juristin, ihrem Exchef gegenüber ihren Verdacht mitteilen und ihm die Beweise übergeben kann, verschwindet sie – wie einst der Urgroßvater, der Familienhund und so manch anderer Bewohner des Dorfes.

Orpheus beginnt, sie zu suchen. Er stellt Nachforschungen an und wir erfahren von Familiengeheimnissen und Verbrechen.

Die Neugierde ist geweckt. Gespannt fliegt man durch die kommenden Seiten.
Was ist da passiert? Wo ist Nienke?

Immer wieder bleibt man an schönen Formulierungen und Passagen hängen:
„Der Augenblick, kurz bevor du den ersten Schritt aus der Angst wagst, ist der furchtbarste. Wenn Entschluss und Zweifel wie mit Äther beträufelt einander den Atem anhaltend gegenüberstehen und du deiner riesiger werdenden Angst ins Auge blickst… Doch sobald der erste und einsamste Schritt aus all der absurden, gewaltigen Furcht und schlimmsten Fantasie getan ist, wenn Zweifel zu Mut und Zögern zu Tat geworden sind, wird es leicht.“ (S. 80f)

Welch‘ schöne Idee! Welch’ schönes Ritual:
„Was war das Schönste heute?“
Diese Frage und ihre Antwort waren immer das Letzte, was wir vor dem Einschlafen besprachen. Denn irgendetwas an jeden Tag war schön, selbst wenn er noch so trübe, beschwerlich, krank oder übellaunig gewesen war…(S. 39)

Unbedingt erwähnenswert ist die originelle Idee, die Kapitel mit Musiktiteln zu überschreiben. Sie passen inhaltlich oder/und geben die Stimmung des Kapitels wieder. Dass man die Playlist in YouTube finden und sich die Lieder anhören kann, erhöht den Genuss. Diese Kombination von Literatur und Musik intensiviert das Leseerlebnis.

Salih Jamal erzählt leidenschaftlich, empathisch und feinfühlig eine intensive, dichte, emotionale und wuchtige Geschichte, die an die griechische Mythologie angelehnt ist. Es ist aber alles andere, als eine Nacherzählung. Jamal spielt mit Elementen aus der Vorlage.

Außerdem ist es schwierig, den Roman in ein Genre einzuordnen. Irgendwie ist es ein spannender Krimi, gleichzeitig aber mehr. Ein bisschen erinnert mich die Art des Buches an „Sommer bei Nacht“ von Jan Costin Wagner.
Aber warum sollte man einen Roman eig. unbedingt einem Genre zuordnen?

Durch einen reichen Wortschatz und mit Hilfe zahlreicher Stilmittel entstehen Bilder und Szenen vor dem inneren Auge und kann man Stimmung und Atmosphäre spüren.

In manchen Passagen werden brutale Szenen schonungslos dargestellt.
… nichts für zart besaitete Gemüter!

Jamal überrascht hier mit einem besonderen und unverwechselbaren Stil und Ton, wobei ich bei manchen Passagen das Gefühl hatte, dass etwas weniger mehr gewesen wäre. Nicht an Inhalt, sondern an Stilmitteln.

Dass Salih Jamal einerseits sehr poetisch und andererseits nüchtern-sachlich, die Handlung vorantreibend und Spannung erzeugend schreiben kann, muss hier auch erwähnt werden. Diese Wandlungsfähigkeit hat mir gefallen und imponiert.

Bis auf wenige Kritikpunkte hat mich der Roman überzeugt und gepackt.
Kreativ, originell und talentiert – so würde ich den Autor Salih Jamal beschreiben.

Ich wünsche ihm für diesen 265-seitigen Roman und für seine anderen/weiteren Werke noch viele Leser!

4/5⭐️

2 Gedanken zu “Jamal, Salih: Orpheus

  1. Liebe Susanne, ich bin sehr stolz in Deinem feinen Blog auftauchen zu dürfen. Du liest klasse zeitgenössische Literatur und Deine Buchbesprechungen geben mir Impulse. Mach weiter so. Liebste Grüße Salih

    1. Lieber Salih,

      und für mich ist es eine Ehre, vom Autor persönlich einen Kommentar zu bekommen. Ich freue mich schon auf Deine weiteren Werke.

      Herzliche Grüße,
      Susanne

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