Rouska, Nena: Der Scheinpatient

Als Psychoanalytikerin bin ich einigermaßen skeptisch, aber offen an das bereits 2017 erschienene, 242-seitige Werk herangegangen. Ich wurde nicht enttäuscht!

Es handelt sich hier um einen berührenden, bewegenden, humorvollen und tiefgründigen Entwicklungsroman über einen liebenswerten Spätzünder.

Nena Rouska hat aus einer originellen und witzigen Idee eine unterhaltsame und kurzweilige Geschichte um einen Sohn, der an seiner Herkunft im Allgemeinen und an der Liebe seines Vaters im Besonderen zweifelt, kreiert.

Das Besondere an der Geschichte ist, dass sie auf zwei Ebenen spielt.
Aber nicht auf zwei Zeitebenen, sondern auf zwei verschiedenen Ebenen, was Wahrnehmung und Tiefgründigkeit betrifft.
Man kann sie als witzige und vergnügliche Geschichte lesen oder als vordergründig leichtfüßig und hintergründig tiefsinnig daherkommende Geschichte.
Oder eben als beides.

Der 30-jährige Ich-Erzähler Frederik ist ein vielseitig interessierter, nachdenklicher, sensibler und intelligenter junger Mann mit ausgesprochen gutem Gedächtnis.

Er stammt aus reichem, wortkargem und kühlem Elternhaus, wo er sich nie so recht zugehörig gefühlt hat.
Frederik lebt noch zu Hause, hat keine Freunde, hatte noch nie eine Freundin und geht auch keiner regelmäßigen Arbeit nach.
Er ist ein liebenswert-kauziges, naives und etwas weltfremdes Einzelkind.
Tendenziell lebensuntüchtig und von Beruf Sohn.

Frederik ist einerseits verwöhnt, weil er aus reichem Elternhaus kommt, aber andererseits emotional vernachlässigt, was Zuwendung und Interesse anbelangt.
Eine ungünstige Konstellation, die den Start ins Leben erschwert!

Bevor er die Fabrik seines Vaters übernimmt, heiratet und mit seiner Frau eine Familie gründet, will er sich erstmal selbst suchen und finden.

Er beginnt damit, psychologische Ratgeber, Sach-, Fach- und Lehrbücher zu lesen und stellt fest, dass er psychisch kerngesund ist.

Das bringt ihn auf die Idee, die Kompetenz von Fachleuten zu testen und ein Experiment durchzuführen:
Würden sie wohl zum selben Schluss kommen auch wenn er Symptome vortäuschen würde?

Im Verlauf lernen wir dann erstmal verschiedene Therapeuten und ihre Vorgehensweisen kennen. Manches ist dabei überspitzt, aber ein wahrer Kern ist das ein oder andere Mal durchaus enthalten.

Die Autorin veranschaulicht wunderbar, dass sich je nach Anfangsszene und Therapeut erstmal unterschiedliche Prozesse entwickeln und Themen herauskristallisieren.

Beidem kann Frederik sich schließlich nicht mehr entziehen.
Experiment hin oder her.

Was anfangs nur ein Experiment war, wird peu à peu ein interessantes Abenteuer – äußerlich und innerlich.

Das Experiment als solches tritt in den Hintergrund; es wird zur Realität.

Frederik fällt aus der Position des Beobachters in die Position des Involvierten.

Im Rahmen dieses Abenteuers gerät er schließlich in polizeiliche Ermittlungen und flüchtet mit Alex, einem „echten“ Patienten, nach Bulgarien, wo sie die gastfreundliche Oma Dora kennenlernen und ungewöhnliche Situationen meisten.

Das Buch ist in einer leichten, lebendigen und erfrischenden Sprache geschrieben.
Man fliegt durch die Seiten und muss immer wieder schmunzeln und manchmal laut auflachen.
Gegen Ende kullerten sogar einige Tränen der Rührung.

Natürlich wird das Ganze etwas überspitzt und nicht ganz realistisch dargestellt, aber man kann wunderbar Abtauchen und Entspannen.
Und wenn man Lust hat, kann man sich darüber hinaus noch mit den dahinterstehenden ernsten Themen auseinandersetzen:

Es geht um Verwöhnung und gleichzeitige Vernachlässigung mit allen Konsequenzen an inneren Konflikten.

Identität, Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein, Selbstunsicherheit, emotionale Abhängigkeit – Emanzipation spielen eine Rolle.

Zwei weitere Besonderheiten fielen mir auf und möchte ich erwähnen, weil ich sie aus analytischen Sicht als bedeutsam erachte:
Nena Rouska hat die Symbolik einer psychosomatischen Symptomatik exzellent eingearbeitet und auch schön in Worte gefasst, dass es keine lauten und grellen Ereignisse braucht, damit sich das emotionale Befinden verändern kann.
Es reicht dafür schon eine Melodie, die Erinnerungen wach ruft.

Sie erzählt mit Hilfe ihres Protagonisten auch vom Mut und Leidensdruck, die es braucht, um sich (einem Therapeuten) zu öffnen, sich anzuvertrauen und sich fallen zu lassen und sie macht deutlich, dass Fühlen viel wichtiger als Wissen ist, wenn es um seelische Veränderung und Entwicklung geht.

Mit einer wunderbaren Metapher des Wachküssens beschreibt die Autorin, wie eine gelungene Therapie wirken und funktionieren kann.

Lesenswert!

4/5⭐️

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