Schmidt, Joachim B.: Kalmann

Der Niedergang eines isländischen Dorfes, ein Sheriff, der Grönlandhaie, Polarfüchse und Schneehühner jagt und ein Kriminalfall!

Mit Beginn der Lektüre begegnen wir dem ratlosen Kalmann, der gedankliche Zuflucht bei seinem Großvater sucht.

Wie hätte der wohl an seiner Stelle reagiert, wenn er in der Stille und Kälte des verschneiten Hinterlands von Melrakkaslétta, einer Halbinsel im äußersten Nordosten von Island, plötzlich eine Blutlache im Schnee entdeckt hätte?

Der 33-jährige sympathische Kalmann, Ich-Erzähler der Geschichte, ist geistig retardiert, wirkt daher recht kindlich und hat Schwierigkeiten, mit Veränderungen und überwältigenden Gefühlen umzugehen.

Er ist bei seinem geliebten und geschätzten Großvater, einem gutmütigen, geduldigen und klugen Jäger und Haifischfänger, in Raufarhöfn, einem kleinen Ort auf der Halbinsel Melrakkaslétta, und bei seiner Mutter, die aber meist beim Arbeiten war, aufgewachsen.

Inzwischen hat Kalmann seinen Platz in der Dorfgemeinschaft gefunden und sitzt sein Großvater dement im Pflegeheim.

Der Großvater hat Kalmann aufs Leben und Überleben vorbereitet und ihn geduldig und erfolgreich in die Kunst und Geheimnisse des Jagens und Haifischfangs eingeweiht.

Er hat seinem Enkel Haus, Gewehr und Boot hinterlassen, so dass Kalmann ein Dach über dem Kopf hat, Geld verdienen und sich recht gut selbst versorgen kann. Wenn Not am Mann ist, kann er auf seine Mutter zählen.

Kalmann, der selbst ernannte Sheriff von Raufarhöfn, kann Polarfüchse und Schneehühner erlegen und Grönlandhaie fangen.

Und er macht den zweitbesten Gammelhai auf der ganzen Insel. Gammelhai?

Ja, schon richtig gelesen!

Das ist wohl eine nach Ammoniak stinkende, zähe, gummiartige und glitschige Spezialität, die man am Besten mit Alkohol runterspült.

Es heißt, die Isländer würden Gammelhai nur noch essen, um anschließend einen Grund zu haben, Schnaps zu trinken 😉

Kalmann, gleichermaßen ahnungslos, vertrauensselig, ehrlich und unbedarft, wie schlau, geschickt und altklug, hat nun also, wie oben bereits erwähnt, während einer Jagd auf einen Polarfuchs diese Blutlache entdeckt… und der Schulrektorin Hafdís davon erzählt.

Kurze Zeit später kursiert die Neuigkeit, dass der einflussreiche und vermögende Hoteldirektor Róbert McKenzie vermisst wird…Frieden, Harmonie und Ruhe sind dahin.

Kalmann wird von einer Polizistin zum Verhör einbestellt und „wird nervös, fühlt sich schuldig, auch wenn er überhaupt nichts verbrochen und niemanden umgebracht hat.“ (S. 35)

Im Verlauf der Lektüre kommen wir Kalmann, seinem Alltag und seiner Vergangenheit näher, lesen wir über das Verschwinden McKenzies und inwiefern Kalman in den Fall verwickelt ist.

Wir bekommen aber auch einen guten Einblick ins Dorfleben und lernen einige Bewohner kennen.

Es ist, als wäre man vor Ort und Teil des Geschehens.

Es macht sehr viel Spaß, Kalmann zu begleiten, von seinem Aufwachsen zu erfahren und in sein Leben einzutauchen.

Immer wieder überkam mich Mitgefühl für den heranwachsenden Kalmann, der es nicht gerade leicht hatte, weil man Späße mit ihm trieb und er nicht selten belächelt wurde.

Gleichzeitig empfand ich aber auch Bewunderung und Zuneigung für den erwachsenen Kalmann, der beherzt, optimistisch und lebensfroh sein Leben meistert und im Ort integriert und geschätzt wird.

Der Autor schreibt flott, spannend und respektvoll.

Was dabei herauskommt ist ein herzerwärmender und nicht selten amüsanter, witziger, zum Schmunzeln und Nachdenken anregender Roman.

Besonders beeindruckt haben mich all die Informationen zu Islands Fauna, Flora, Geschichte und Politik, die man en passant erhält.

Dass der Schweizer Autor weiß, wovon er schreibt, ist spürbar.

Er hat mit 16 Jahren seine Faszination für Island entdeckt und lebt nun schon seit 13 Jahren dort. Seine Bewunderung für Islands Natur und seine umfassenden Kenntnisse über das Land, die er nicht zuletzt in seiner Ausbildung zum Reiseleiter erworben hat, verarbeitet er in dem Roman.

Landschaft und Klima von Island kann man sich auf Grund der bildhaften Beschreibungen wunderbar vorstellen.

Man hat das Gefühl, Kalmann auf seinen Touren zu begleiten.

Sehr interessant fand ich, am Beispiel von Raufarhöfn, über die Problematik der kleinen isländischen Fischerdörfer zu lesen und politische Hintergründe zu erfahren.

Die Auswirkungen der Überfischung sowie die Einführung und Folgen der Fangquoten werden erwähnt und man versteht, warum aus dem einst geschäftigen und lebendigen Hafenort, der für seinen Heringsfang im Speziellen und für seinen Fischfang im Allgemeinen berühmt war und in dem es vor Seeleuten und Hafenarbeitern nur so wimmelte, ein fast ausgestorbenes Dörfchen wurde, in dem es gerade noch einen zeitweise geöffneten Dorfladen und eine Schule gibt.

Vor der Lektüre wusste ich nichts über Grönlandhaie, die Jagd auf sie oder die Zubereitung, geschweige denn die Existenz von Gammelhai.

„Kalmann“ ermöglicht einen Blick über den Tellerrand.

Einen Kritikpunkt möchte und muss ich erwähnen.

So in etwa nach 100 Seiten stieß ich immer wieder auf eine Diskrepanz.

Einerseits zeichnet der Autor Kalmann als geistig retardierten Mann, andererseits gibt er ihm Fähigkeiten, die ein solcher nicht haben kann.

Ein zurückgebliebener Mann wie Kalmann kann solch’ differenzierte Gedanken, wie Joachim B. Schmidt sie manchmal formuliert, nicht in dieser Form denken.

Er kann komplexe Vorgänge und Gefühle auch keinesfalls so präzise beschreiben und er ist auch nicht in der Lage, so tiefgründige Reflexionen, z. B. über die wirtschaftliche Lage des Ortes anzustellen.

Außerdem ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass er so eloquente Wörter wie „repetieren“ verwendet.

Es fiel mir schwer, abstrakte Äußerungen und kluge Kommentare Kalman zuzuordnen.

Der Autor hat sich für diese Erzählperspektive entschieden, hält sie aber nicht durch und dadurch büßt der Roman an manchen Stellen etwas an Glaubwürdigkeit ein.

Aber eben nur an manchen Stellen! Oft zeichnet er ein sehr realistisches, glaubhaftes und treffendes Bild von Kalmann:

Der junge Mann ist leichtgläubig und kann die Komplexität der Dinge nicht erfassen. Er ist sehr konkretistisch, sein Abstraktiondvermögen ist herabgesetzt. Er bleibt am Detail hängen.

Kalmann kann Gefühle zwar empfinden, hat aber Schwierigkeiten im Umgang damit. Intelligenz, Lernfähigkeit, soziale und emotionale Reife sind herabgesetzt.

All das zeigt der Autor wunderbar und dadurch bekommen wir ein sehr lebendiges Bild von Kalmann.

Und genau deshalb irritieren diese anderen, oben genannten Stellen.

Trotzdem überzeugt mich der Roman, in dem viel Reales verarbeitet wird.

Über den oben genannten Kritikpunkt kann ich gut und gerne hinwegsehen, weil der Rest einfach bereichernd ist: unterhaltsam, amüsant, interessant, spannend und informativ.

In dem Roman spielt ein Kriminalfall eine zentrale Rolle, aber er ist so viel mehr als ein Krimi.

Er ist eine gelungene Kombination aus Islandroman, Kriminalroman und Lebensgeschichte, eingebettet in Reales, Wissenswertes und Aktuelles.

Und eins verspreche ich:

Gegen Ende erwartet den Leser ein fulminantes Finale, ein Showdown, das in keiner Weise vorhersehbar war!!!

Chapeau!

Ich bin sehr froh, „Kalmann“ gelesen zu haben und empfehle den Roman sehr gerne weiter!

5/5⭐️

🇮🇸

4 Gedanken zu “Schmidt, Joachim B.: Kalmann

  1. Liebe Frau Probst,
    Ihre Rezensionen sind immer Ansporn und Motivation!
    Ohne Sie hätte ich vermutlich diesen Roman übersehen und wirklich etwas versäumt. Dieser junge Autor schafft es tatsächlich Reales (das Dorf gibt es, diese Touristenattraktion auch, Haie werden nach neuen Erkenntnissen wirklich so unfassbar alt, die beschriebenen Entwicklungen decken sich mit den auf unserer Reise durch Island vor kurzem von den Reiseführern vor Ort beschriebenen) mit spannenden Wendungen und plausiblen Personenbeschreibungen, Naturbeschreibungen, zeitgeschichtlichen Ereignissen so zu kombinieren, dass bis zum Schluss zumindest bei mir keine Enttäuschung entstand. Da unklar ist, welche geistige Behinderung der Protagonist eigentlich hat, erschien mir als Nichtmediziner jede Reaktion durchaus folgerichtig und nachvollziehbar. Es gibt ja alle möglichen Formen von Autismus, und die Wärme, die der Autor für seine Figur hat, erinnerte an Christopher Boone im Roman von Mark Haddon, auch wie schon in vielen weiteren Rezensionen angemerkt an Forrest Gump. Immer wieder musste ich über seine Gedanken und Verhaltensweisen schmunzeln.
    Ein Roman, der praktisch alle aktuellen Probleme am Beispiel eines winzigen Dorfes nahe dem Polarkreis mit sehr viel menschlichem Verständnis für alle Figuren kombiniert ohne überfrachtet zu wirken, eine großartige Leistung!
    Vielen Dank für den Tipp!

    1. Ich freue mich sehr über Ihre Rückmeldung und dass Ihnen der Roman auch gefallen hat.
      Es ist ein wirklich schönes Gefühl, seine Begeisterung zu teilen und dass ich Sie mit meinen zusammengefassten Eindrücken anstecken konnte freut mich umso mehr.
      Herzliche Grüße 💐

  2. Liebe Susanne, über diese Punkte habe ich mir auch Gedanken gemacht, aber sie nicht erwähnt, weil ich glaube , dass diese für den Roman unerheblich sind. Es ist ein Roman der unterhalten soll und eine große Leserschaft erreicht. Die Leserschaft sieht anders aus als zum Beispiel bei einem Buch des dbp.
    Deine Rezi finde ich wie alle: TOP.
    Ich hadere mit mir noch, ob ich einen Blogg eröffnen soll. So richtig sehe ich die Notwendigkeit nicht. Eher viel Arbeit, unter Umständen auch Druck. Ich bewundere dich, wie du das neben deinem „Job“ schaffst. Und auch die vielen Blogger im Internet, wenn ich mich nicht täusche 300.000, machen sich doch gegenseitig Konkurrenz. Hinzu kommen noch die vielen Möchtegern Schreiber, so wie ich. Aber dein Blog gefällt mir, und ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg. LG Petra

    1. Liebe Petra,
      erst einmal „Danke“ für deine Rückmeldung und auch für dein Lob.
      Ich freue mich, wenn du mit meinen Rezensionen etwas anfangen kannst und dich die eine oder andere inspiriert.
      Für mich war der Kritikpunkt nicht unerheblich, aber letztlich in der Gesamtbewertung doch vernachlässigbar.
      In erster Linie schreibe ich meine Eindrücke und Gedanken für mich selber auf.
      Um das Leseerlebnis abzurunden.
      Und deshalb muss und möchte ich auch das erwähnen, was mir nicht so gut gefallen hat.
      Da geht es mir gar nicht um die allgemeine Leserschaft.
      Ein Blog ist sicherlich nichts Notwendiges. Für mich ist es mein Lesetagebuch, auf das auch andere Lesebegeisterte zurückgreifen können, wenn sie wollen.
      Wenn ich dann noch Rückmeldungen bekomme und es zu einem netten Austausch kommt, dann ist es umso erfreulicher!
      Ich empfinde es nicht als Arbeit. Es bereitet mir viel Spaß und Vergnügen.
      Und Druck empfinde ich da schon gleich gar nicht. Dann würde ich die Finger davon lassen.
      Für mich sind lesen, rezensieren und bloggen ein Hobby und Ausgleich zum beruflichen Alltag.
      Und mit dem Wort Konkurrenz kann ich auf diesem Gebiet überhaupt nichts anfangen. Es ist mir ziemlich egal, was andere Blogger treiben und ob deren blogs „besser“ oder beliebter sind. Ich habe Freude mit meinem Blog und ich bin stolz darauf, weil ich ihn nur wegen meiner beiden Kinder habe.

      Sei ganz lieb gegrüßt und hinterlasse noch viele Rückmeldungen, Gedanken und Kommentare,
      Susanne

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