Oehmke, Philipp: Schönwald

Was für ein Roman!

Soeben habe ich meinen Kindle, auf dem ich diese wunderbare Geschichte gelesen habe, zugemacht.

Ich möchte meine Eindrücke sofort loswerden und zu Papier bringen, weil ich so begeistert bin.

Lange Zeit dachte ich, dass das Buch einen ganz anderen thematischen Schwerpunkt hat. Ich vermutete, es gehe, kurz gesagt, um den Umgang mit Nazi-Vergangenheit in der persönlichen Biographie. Aber es stellte sich heraus, dass ich falsch lag. Sehr originell und gelungen leitete Philipp Oehmke zu einem anderen, leider allgegenwärtigen Thema um: der Sprachlosigkeit in Familien.

In der Familie Schönwald wird, v. a. auf Geheiß und nach dem Vorbild der Mutter Ruth, Unangenehmes verleugnet und verdrängt. Es wird nicht ausgesprochen, sondern tot geschwiegen. Es resultieren Lügen und Geheimnisse.

Viele Jahre ziehen ins Land, in denen das Familienmotto des Schönredens und Wegschauens funktioniert.

Ausgelöst durch die gescheiterte Eröffnungsfeier des Buchladens der Tochter Karolin ändert sich das schlagartig. Von nun an strebt alles rasant einem bewegenden Höhepunkt entgegen.

Den Rahmen dieses Finales bildet ein Grillfest, auf dem Gefühle zum Ausdruck gebracht, Fragen gestellt, Vorwürfe gemacht und Geständnisse ausgesprochen werden.

„…Und dann tat der Nachzügler Benni, …was in der Familie Schönwald …noch nie jemand getan hatte: Er sprach über gefühlte Wahrheiten, er hatte den Boden seiner mathematischen Beweise verlassen.“ (S. 535)

Der jüngste Sohn Benni leitet also eine neue Ära ein, indem er seiner Familie die „…Unfähigkeit, über eure Gefühle und Schwächen und Niederlagen und so zu reden.“ (S. 526) vorwirft.

Er spricht endlich aus, was ihn bedrückt: „So geht Familie aber nicht. Familie heißt, sich Sachen sagen zu können.“ (S. 534)

Ruth‘s Kommentar zu all den darauf folgenden Enthüllungen? „Ein großer Stein war ins Wasser geflogen, hatte konzentrische Kreise erzeugt, doch irgendwann war die Wasseroberfläche wieder glatt.“ (S. 542).

Das war jetzt erstmal das, was unbedingt und ganz schnell raus musste.

Jetzt erzähle ich noch ein bisschen was vom konkreten Inhalt und danach äußere ich noch einige Gedanken zum Buch.

Die 74-jährige Ruth, ihr um einige Jahre älterer Ehemann Hans-Harald und ihre drei erwachsenen Kinder Chris, Karolin und Benni treffen sich anlässlich der Eröffnung des queeren Buchladens von Karolin in Berlin-Kreuzberg.

Im ersten Kapitel befinden wir uns mitten auf der Einweihungsfeier dieses schwul-lesbischen Buchladens.

Wir folgen Ruths Beobachtungen und Gedanken und lernen dadurch schon auf den ersten Seiten einige ihrer Persönlichkeitsmerkmale und grob die Struktur und Charaktere der Familie Schönwald kennen.

Die pensionierte Universitätsdozentin Ruth, die mit ihrem Mann Hans-Harald seit fünfzig Jahren verheiratet ist und in einem Vorort von Köln lebt, ist eine distanzierte, kühle, bewertende Frau, die die Fäden in der Hand halten will und sehr auf Außenwirkung bedacht ist.

Über Hans-Harald, den ehemaligen Staatsanwalt, der im Gegensatz zu seiner Frau „immer über alles reden will“, Chris, den Literaturwissenschaftler und Ex-Universitätsprofessor, der extra aus New York eingeflogen ist, Benni, der mit seiner superreichen und überfürsorglichen Frau und den beiden kleinen Söhnen zur Party gekommen ist und Karolin, die sich nach vielen Jahren und einem abgebrochenen Studium mit dem Buchladen endlich einen Traum erfüllt hat, erfahren wir auch so Einiges.

Schon auf diesen ersten mitreißenden Seiten zeigt sich, dass die Figurenzeichnung äußerst differenziert, lebensnah und individuell ist. In Windeseile taucht der Leser in das feine und dichte Familiengewebe der Schönwalds ein und und ahnt, dass es thematisch um den Umgangs mit Nazi-Erbe gehen wird.

Die Spannung steigt kaum dass die Geschichte beginnt, weil von jungen Aktivisten ein Anschlag mit Farbbeuteln auf den Buchladen, der gerade eingeweiht werden soll, verübt wird.

Das Geschäft werde von „Menschen mit Nazihintergrund“ geführt, was besonders absurd sei, weil der Buchladen ein Buchladen für Minderheiten sei.

Der Vorwurf der Farbbeutel-Werfer, dass der Buchladen mit Nazigeld finanziert sei, das aus Kriegsverbrechen stamme und dass die Familie somit mit dem Nazi-Regime verstrickt sei, wiegt schwer und ist auf den ersten Blick nicht haltbar.

Er bringt das scheinbar harmonische und idyllische familiäre Gleichgewicht ins Wanken und wirft Fragen auf.

Ist was dran an den Vorwürfen?

Gibt es Geheimnisse, die gut beiseite geschoben werden konnten, weil in dieser Familie nicht über Tiefsinniges, sondern über Belangloses gesprochen wurde und wird?

Geht es hier um eine Schuld, die verschleiert und unter den Teppich gekehrt wird?

Schwelt da ein Konflikt unter der aalglatten Oberfläche, der nun nicht mehr verleugnet werden kann?

„Schönwald“ ist das authentisch wirkende Portrait einer Familie, das in aktuelle gesellschaftspolitische Themen eingebettet ist. Egal in welcher Lebensphase man sich als Leser befindet, man kann sich gut in jede Figur hinein versetzen.

Der Roman ist kurzweilig, interessant, fesselnd und tiefgründig und die Figuren werden differenziert und lebensecht gezeichnet.

Der Autor greift ein wichtiges Thema auf und schwenkt auf ein ebenso brisantes um. Er führt den Leser erst auf eine Fährte und lässt ihn schließlich ein ganz anders Ziel ansteuern. Brillant gemacht!

Ich empfehle „Schönwald“ sehr gerne weiter!

🇩🇪

5/5 ⭐️

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