Swift, Graham: Da sind wir

„Da sind wir!“ – Ich muss gestehen: mir gefällt der Titel nicht.
Er ist nichtssagend bzw. irreführend.
Der Originaltitel hingegen,„Here we are“, lässt Bilder vor dem geistigen Auge entstehen. Bilder, die zu der Geschichte passen.

Obwohl der Roman nur 159 Seiten hat, geht es um so vieles:
Erscheinen und Verschwinden…
Illusionen und Tricks…
Zauber und Magie…
Die Welt des Showbusiness…
Mütter und Väter…
Beziehungen und Dreieckskonstellationen…
Krieg…
Kindliche Nöte und Strategien, um mit den Gegebenheiten klar zu kommen…
Schuldgefühle…

Jack, der Entertainer und Ronnie, der Zauberer, haben sich beim Militärdienst in England kennengelernt.
Nach ihrer Militärzeit bleiben sie in Kontakt und 1958 verhilft der als Alleinunterhalter erfolgreiche Jack seinem Freund Ronnie zu einem Engagement in seiner Show im Seebad Brighton.
Evie wird Ronnies Assistentin und … Verlobte.
Und dann verschwindet Ronnie…

All das erfährt man schon auf den ersten Seiten.
Währenddessen lässt Graham Swift beiläufig Andeutungen und Bemerkungen einfließen, die Fragen aufwerfen, den Leser neugierig machen und die Spannung steigern.

Dann drosselt er das Erzähltempo und lenkt den Blick in eine andere Richtung.
Wir lesen vom Aufwachsen des 1931 geborenen Ronnies in ärmlichen Verhältnissen in London und davon, wie und wo er die Kriegsjahre verbracht hat und wer sein „Zaubermeister“ wurde.

Aber Swift erzählt diese Biographie nicht einfach. Er bringt sie uns höchst empathisch nahe und zeigt dabei ein außerordentliches Einfühlungsvermögen in das Innenleben eines Kindes.

Standen zu Beginn Neugier und Spannung im Vordergrund, so verfolgt man jetzt mit einer Vielzahl von Gefühlen diesen feinfühligen Schilderungen. Empörung, Traurigkeit, Freude… wunderbar, wie er die verschiedenen Emotionen im Leser zum Klingen bringt.

Im weiteren Verlauf erzählt Swift abwechselnd von Ronnie, Evie und Jack.
Wie bei einem Puzzle fügen sich die einzelnen Teilchen zu einem Gesamtbild und am Ende ist so manche, aber nicht die entscheidende Frage des Lesers beantwortet.

Es ist beeindruckend, was in so einem schmalen Bändchen alles erzählt werden kann. Und nicht nur WAS erzählt werden kann, sondern vor allem, WIE es erzählt werden kann.

Graham Swift spielt mit den Zeitebenen und mit den Perspektiven. Fließend und gekonnt schwenkt er den Spot in der Horizontalen zwischen den verschiedenen Protagonisten und in der Vertikalen zwischen den Zeiten hin und her.
Kein Wort ist zu viel, keines zu wenig.

Die Lektüre verlangt Aufmerksamkeit. Würde man einen Satz überlesen, hätte man etwas verpasst.

Klare Leseempfehlung!

4/5⭐️

2 Gedanken zu “Swift, Graham: Da sind wir

  1. Graham Swift ist mit praktisch all seinen Büchern eine Leseempfehlung. Seit „The Sweet-shop owner“ verfolge ich mit großem Interesse seine Neuerscheinungen und bin jedesmal beeindruckt von seiner sensiblen, einfühlsamen Erzählweise. Waterland und Last orders gehören zu meinen Favoriten, aber auch die restlichen Romane bis zu Mothering Sunday haben mir sehr gut gefallen.

    1. Wow, das klingt nach einer Swift-Kennerin. Deine Rückmeldung macht auf jeden Fall Lust darauf, mehr von Swift zu lesen.
      In meinem Regal steht noch „Ein Festtag“. Das möchte ich demnächst dann in Angriff nehmen.
      Herzliche Grüße,
      Susanne

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