Viel, Tanguy: Das Mädchen, das man ruft

Das war mal wieder ein ganz besonderer literarischer Leckerbissen!

Inhalt, Sprache und Stil haben mir sehr gut gefallen. Manchmal ist es ja mehr der Inhalt, manchmal mehr die Sprache, die einen fesseln, aber hier stimmt alles und das Ende ist nicht vorhersehbar.

Der Ich-Erzähler erzählt auf knapp 160 Seiten von Laura, ihrem Vater Max, seinem Chef, dem Bürgermeister Quentin Le Bars und dessen befreundeten Casinobesitzer Franck Bellec.

Es ist Anfang 2017 und wir befinden uns in einer bretonischen Hafenstadt. Die 20-jährige Laura ist kürzlich nach etlichen Jahren in ihren Heimatort zurückgekehrt. Jetzt sucht sie eine Bleibe und einen Job. Ihr Vater hat seinen 48-jährigen Chef, den Bürgermeister, gefragt, ob er ihr wohl bei der Wohnungssuche helfen könnte.

Laura, die einige Jahre als Fotomodel tätig war, sitzt vor dem Café Univers in der Altstadt. Sie hat in Kürze einen Termin beim Bürgermeister im benachbarten Rathaus. Bis dahin genießt sie ihren Kaffee und blättert neugierig durch den Sportteil der Zeitung. Wird sie dort einen Artikel über ihren 40-jährigen Vater Max finden, der kürzlich nach längerer Pause wieder einen Sieg als Boxer errungen hat, dem der nächste Kampf bevorsteht und der das Treffen mit dem Bürgermeister eingefädelt hat?

Immer wieder werden kurze Szenen aus der Zukunft eingestreut, in denen Laura von Polizisten zu dem Termin beim Bürgermeister und zum ganzen Drumherum verhört wird. Dieses Vorgehen des Autors ist ein origineller Kunstgriff, denn man wird bereits auf den ersten Seiten neugierig gemacht und auf die Folter gespannt. Es ist aber nicht nur Neugierde, die schon auf den ersten Seiten erweckt wird. Man bekommt auch eine Vorahnung davon, dass das schmale Büchlein ein sprachliches und stilistisches Juwel werden wird.

Einige Beispiele dazu:

„…die Trikolore, die in der lauen Luft ruhte wie ein eingeschlafener Wachsoldat.“ (S. 7)

„…wenn der Blick vom Kopf zu den Füßen runtersaust wie eine Guillotine.“ (S. 10)

„… ihr bisheriges Leben, das in den letzten Tagen so deutlich vor ihr inneres Auge getreten war, wie eine alte Haut, die sich nicht abstreifen ließ…“ (S. 31)

„…Information, die durchaus bis zu ihrem Hirn durchgedrungen, dort aber stecken geblieben war wie ein Fahrstuhl zwischen zwei Stockwerken.“ (S. 35)

Im weiteren Verlauf der Geschichte erfahren wir nach und nach Details von dem Treffen der Beiden in dem riesigen und prunkvollen Amtssitz des Stadtoberhaupts und abermals werden Episoden des Verhörs eingestreut, das, so erfahren wir bald, stattfindet, weil Laura eine Anzeige aufgibt.

Mit der Zeit fügt sich ein Bild zusammen, mit dem man so nicht gerechnet hätte.

Es ist eine Geschichte, die auf ein dramatisches und fulminantes Ende hinsteuert.

Es geht dabei um Macht und Ohnmacht, Machtmissbrauch, Machenschaften, Abhängigkeiten, Gefälligkeiten, unausgesprochene, aber trotzdem klar vernehmbare Erpressungen sowie sexuelle Belästigung und Übergriffigkeit.

Immer wieder stößt man verwundert auf die Tatsache, dass „das ES regiert und nicht das ICH“ („Das ICH ist nicht Herr im eigenen Haus“, Zitat von Sigmund Freud).

Könnte man sonst handeln wie Laura handelt?

Der Autor seziert mit bzw. in seinem Werk auf beeindruckende Art und Weise den Mechanismus, warum etwas passiert. Es geht dabei gar nicht so sehr um die Figuren. Sie werden relativ eindimensional, klischeehaft und schablonenartig gezeichnet, was mich hier gar nicht störte weil ich denke, dass diese einfache Art der Charakterdarstellung und die recht einfach zu umreißende (aber packende) Handlung zusammen mit dem komplexen Stil, den kunstvollen Formulierungen und den beeindruckenden Bildern in ihrer Gesamtheit dem Thema der Geschichte Nachdruck verleihen.

Es geht, wie gesagt, mehr um die Thematik an sich und um den Mechanismus und die Entstehungsgeschichte dahinter.

Auf den Inhalt möchte ich nicht weiter eingehen, um niemandes Lesegenuss zu mindern. Ich ärgere mich immer, wenn in Rezensionen zu viel verraten wird.

Nun noch ein paar Worte zum Stil und zur Sprache:

An die langen und verschachtelten Sätze muß man sich erstmal gewöhnen und sie sehr konzentriert lesen… wenn beide Voraussetzungen dann erfüllt sind, ist es für Liebhaber von Formulierungen, Assoziationen und Bewusstseinsströmen eine Oase, in der man sich nicht nur wohlfühlen kann, sondern geradezu muß.

Dieser originelle und nur mit Aufmerksamkeit zu lesende Schreibstil mit seinen vielen Bildern wirkte auf mich weder bemüht noch gekünstelt, sondern fließend und natürlich.

Die inhaltlich überschaubare und schnell zusammengefasste Geschichte ist ernst, aktuell, brisant und interessant. Sie ist gleichzeitig eine literarische Besonderheit und ein sprachlicher Hochgenuss mit unfassbar eindrücklichen Bildern.

Viele Sätze „musste“ ich mehrmals, langsam und laut lesen, weil sie mich so begeistert haben. Ich bewundere die Ausdrucksfähigkeit und Wortgewandtheit von Tanguy Viel und die Kompetenz des Übersetzers Hinrich Schmidt-Henkel.

Ich kann nicht umhin, dazu noch ein Beispiel anzuführen:

„(Die alte und komplexe Beziehung, die zwischen ihnen bestand), war eine öffentlich bekannte Tatsache, trotz all dessen, was die beiden auf den ersten Blick so unterschied, der eine in seinen über dem Bauchansatz spannenden taillierten Anzügen, der andere unausweichlich düstere, unterweltliche Assoziationen weckend, denen sein weißer Anzug nicht nur nicht entgegen wirkte, sondern die er geradezu verstärkte, so, wie die Scheinwerfer eines Wagens in der Abenddämmerung klarmachen, dass es bald Nacht wird.“ (S. 41)

„Das Mädchen, das man ruft“ ist ein anspruchsvoller Roman, der für den Prix Goncourt nominiert war. Er bereitete mir großes Lesevergnügen und ich empfehle ihn sehr gerne weiter.

5/5 ⭐️

🇫🇷

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