Tilda lebt mit ihrer 10 Jahre alten Schwester Ida und ihrer alkoholkranken Mutter in einem Mehrfamilienhaus in der Fröhlichstraße in einer deutschen Kleinstadt.
Weil auf die Mutter, die meist untätig und alkoholisiert auf den Sofa liegt, kein Verlass ist, kümmert sie sich neben ihrem Mathematik-Masterstudium und ihrem Nebenjob als Kassiererin an der Supermarktkasse rührend und liebevoll um Ida.
Tilda kocht, tröstet, lobt, geht zum Elternsprechtag, nimmt Ida mit ins Schwimmbad. Am ausgelassenen Studentenleben nimmt sie selten teil, weil sie abends ihre kleine Schwester nicht bei ihrer alkoholisierten Mutter lassen will.
Tilda ist nicht nur Studentin und Schwester, sondern auch Ersatzmutter der kleinen Ida, deren Namen sie einst ausgesucht hatte. Tilda macht ihre Sache richtig gut, kommt dabei aber selbst zu kurz.
Zeit für sich hat Tilda kaum. „Ich möchte das Einschlafen so lange wie möglich hinauszögern, weil das hier mit die besten Momente des Tages sind, die ich nicht weggeben möchte. Diese Momente, die nur mir gehören, in denen ich nichts tun, nichts denken muss, in denen ich einfach nur liegen und die abgekühlte Sommernachtsbrise durch die weit geöffneten Fenster auf mich fallen lassen darf.“ (Kindle, Pos. 117)
Tilda‘s ehemalige Klassenkameraden und Freunde haben ihrer Heimat den Rücken gekehrt. Sie studieren in anderen Städten, z. B. in Berlin. Auch ihre beste Freundin Marlene studiert auswärts und kommt nur noch selten nach Hause. Tilda hat sich entschieden, in ihrem Heimatort zu bleiben. Sie will und muss sich um Ida kümmern. Es ist ein „müssen“ aus tiefer Zuneigung und Verbundenheit.
Abends, an den Wochenenden oder nach der Uni, zu der sie täglich über zwei Stunden hin – und wieder zurückpendelt, fährt Tilda mit der Straßenbahn ins Schwimmbad und schwimmt 22 Bahnen. Die Fahrzeit nutzt sie für Übungsaufgaben und zum Lesen.
Zeitverschwendung wäre Luxus.
Bald stehen Veränderungen an:
Veränderung 1: Viktor tritt in ihr Leben.
Veränderung 2: Das Ende des Studiums naht.
Eines Tages trifft Tilda im Schwimmbad Viktor, den älteren Bruder von Ivan, mit dem sie vor dessen Tod befreundet war. Viktor war im gleichen Gymnasium wie sie, aber 4 Klassen über ihr. Beide waren sie mathematische Überflieger.
Viktor schwimmt auch täglich 22 Bahnen und zwar in einem beeindruckenden Schwimmstil.
In Kürze wird Tilda ihre Masterarbeit schreiben. Mit der Abgabe wird sie ins Berufsleben starten. Für sie ist klar, dass sie sich eine Stelle in der Umgebung suchen wird, weil sie sich weiter um Ida kümmern möchte und muss.
Eines Tages empfiehlt ihr Lieblingsprofessor ihr, sich auf eine Promotionsstelle an der Humboldt-Universität in Berlin zu bewerben…
Aber geht das? Wird Tilda einen Weg finden, um sich verantwortungsvoll für die eigene Entfaltung und das eigene Glück zu entscheiden?
Dieser Familienroman mit seiner schweren Thematik könnte sehr deprimierend und düster sein.
Er ist es aber nicht.
Er ist zwar sehr berührend in all seinen realistischen und authentischen Beschreibungen , aber er wird nie bedrückend oder trostlos, weil durchgängig die bedingungslose Liebe zweier Schwestern zueinander spürbar ist, weil Hoffnung und Zuversicht durchschimmern, weil Mut und Optimismus zu spüren sind und weil sich hinter der drastischen Familiengeschichte eine zarte Liebesgeschichte anbahnt.
Die 1995 geborene Autorin Caroline Wahl hat mit ihrem Debütroman „22 Bahnen“ ein wunderschönes, berührendes, kurzweiliges, unterhaltsames, ermutigendes und realitätsnahes Buch geschrieben, das mit lockerer und jugendlich-frischer Sprache sowie mit einer beachtenswerten Ausgewogenheit zwischen Schwere und Leichtigkeit daherkommt. Es ist gleichermaßen gnadenlos und unverschnörkelt wie feinsinnig und herzerwärmend geschrieben… und dabei niemals kitschig.
Ich empfehle „22 Bahnen“ sehr gerne weiter.
🇩🇪 4,5/5⭐️