Lenz, Siegfried: Der Geist der Mirabelle

In dem schmalen, gerade mal 85-seitigen Bändchen „Der Geist der Mirabelle“, das in seinem Erscheinungsjahr 1975 dreieinhalb Monate lang auf der Spiegel-Bestsellerliste stand, finden sich Geschichten aus Bollerup, einem Dorf an der Ostsee, in dem die meisten Einwohner mit Nachnamen Feddersen heißen, weshalb jeder einen Spitznamen trägt.

In den 12 Erzählungen aus dem Alltag der Bewohner, zu denen ich im Folgenden jeweils ein paar Worte sagen möchte, streift Siegfried Lenz etliche Themen.

In „Ein Bein für alle Tage“ lesen wir von Jens Otto Dorsch, der mit seiner von zwei Pferden gezogenen Mähmaschine ein Roggenfeld mäht. Schon bald vermutet man, dass es kein gutes Ende nimmt.

“Das unterbrochene Schweigen“ erzählt von einem 200-jährigen Dauerstreit zwischen zwei Familien und der bald schon aufkeimenden Hoffnung, dass es von einem Gewitter durchbrochen werden könnte.

“Ein teurer Spaß“ wird es, nachdem Doktor Dibbersen nachts aus dem Bett geholt wird, um ein gebrochenes Bein im Wirtshaus zu verarzten.

Mit den Folgen des Zorns, der erwacht, wenn der bewährten Erfahrung eine nicht nachvollziehbare Norm entgegengesetzt wird, befasst sich „Ursachen eines Streitfalls“.

Welche Ideen sich dem Geizigen aufdrängen, wenn er auf Teufel komm raus sparen will, können wir in der „Hausschlachtung“ nachlesen. Manchmal wird’s dann entgegen jeglicher Erwartung besonders teuer.

In einer weiteren Geschichte geht es um einen Fischhändler, der mit seiner verqueren Logik seine Kunden überzeugt und dabei reich wird.

Zu erfahren, wie ein Holzdieb überführt wird und welchen Denkzettel er verpasst bekommt, löst Bewunderung und Genugtuung aus. Bewunderung für den Bestohlenen, der eine so erfolgreiche, aber auch gefährliche Idee hatte und Genugtuung, weil der Übeltäter nicht ungestraft davon kommt.

Wie einer Fuchsfamilie der Garaus gemacht werden soll, damit sie das Federvieh im Dorf nicht weiter dezimiert, können wir in „Ein sehr empfindlicher Hund“ nachlesen und in „Hintergründe einer Hochzeit“ erfahren wir, warum ein Paar neun Jahre lang verheiratet war, bevor es endlich heiratete.

In der zehnten Kurzgeschichte geht es um “Die Bauerndichterin“, die sich nach Jahren endlich zu einer Lesung aufrafft, die dann wegen Störungen und Einwürfen der kritischen, konkretistischen und fantasielosen Zuhörerschaft nicht ganz so abläuft, wie geplant.

Danach lernen wir die 92-jährige, topfitte, eigensinnige und bärbeißige Birte kennen. Sie ist „Die älteste Einwohnerin im Orte“. Für dieses zähe „Wunder der Biologie“ interessieren sich auch ein Reporter und ein Fotograf … und sie erleben ihr blaues Wunder.

Last but not least erfahren wir, dass der höfliche und bescheidene Waldarbeiter Fiete ohne sein Zutun zum beliebtesten Einwohner von Bollerup auserkoren wird, weshalb er für die Politik gewonnen werden soll.

Aber ist so ein unpolitischer, einsilbiger und genügsamer Mensch der Richtige dafür?

Es macht Spaß, die Einwohner von Bollerup und deren Eigenarten nach und nach immer besser kennenzulernen.

Fünf der Geschichten fand ich absolut herausragend, mit dreien konnte ich mich nicht so richtig anfreunden und der Rest war richtig gut.

Woher nimmt Siegfried Lenz nur diese Einfällle und Ideen, aus denen er so unterschiedliche und abwechslungsreiche Geschichten komponiert?

Sie machen den Leser neugierig und sind mal amüsant, regelrecht lustig oder makaber, absurd bis aberwitzig.

Eines ist sicher: Dem Autor sitzt der Schalk im Nacken und er nimmt die einfache Landbevölkerung auf die Schippe, macht sich fast lustig über sie.

Er überspitzt, aggraviert und betont die Kontraste zwischen schlau und dümmlich oder gerissen und blauäugig.

In den 12 dörflichen Alltagsgeschichten stecken oft allgemein geläufige Erfahrungen, wohlbekanntes Wissen, Anspielungen oder kleine Botschaften.

All dies animiert, da so extrahiert und akzentuiert präsentiert, den Leser unweigerlich zum Schmunzeln.

Siegfried Lenz schreibt flott und lebendig und in einer äußerst bildhaften, schönen, leicht gestelzten, distinguierten und distanzierten Sprache, wodurch Lesegenuss und Spaßfaktor noch erhöht werden.

Der Meister der überraschenden Wendungen erzählt im Plauderton und katapultiert den Leser in Sekundenschnelle mitten ins Geschehen. Fast genauso schnell beendet er die Geschichte dann mit einer unerwarteten Pointe.

Ich empfehle diesen unterhaltsamen, amüsanten und und kurzweiligen Erzählband äusserst gerne weiter.

Er eignet sich vorzüglich für einen verregneten Sonntag auf der Couch… gemütlich eingekuschelt in eine Decke und mit einer Tasse warmem Tee…

4/5

🇩🇪

2 Gedanken zu “Lenz, Siegfried: Der Geist der Mirabelle

  1. Liebe Susanne,
    Wie bist Du denn auf diese Erzählungen gekommen? Sie stehen ja eher im Schatten der bekannten masurischen Geschichten. Ich selbst liebe Siegfried Lenz, er ist allerdings ein bisschen aus der Zeit gefallen. Ich habe neben einigen Romanen den dicken Band mit sämtlichen Erzählungen. Gerade darin erweist er sich als wahrer Menschenkenner und guter Beobachter der Zeit.
    Ich freue mich immer, wenn Blogger neben den aktuellen Büchern immer mal wieder ältere ausgraben. Die lohnen manchmal mehr, als das, was sich aktuell auf den Büchertischen befindet. Zumindest sollten sie nicht vergessen werden. Danke!
    Liebe Grüße Ruth

    1. Liebe Ruth,
      ich kenne wiederum die masurischen Geschichten nicht, die ich mir nach diesem Leckerbissen jedoch vornehmen werde. Ich bin kein Lenz-Kenner wie Du… kenne bisher nur die Deutschstunde, die mich begeistert hat. Aber das wird sich ändern. Ich bin gerade von diesem „aus der Zeit gefallenen“ angetan.
      Liebe Grüße aus Florenz☀️☀️Susanne

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