Schonmal vorweg:
Ein interessantes, anspruchsvolles, unterhaltsames Werk, das den Horizont erweitert!
Der Roman startet 1919 in dem Dorf Bovec, das heute zu Slowenien gehört, das damals, nach dem Krieg, aber Italien zugeschrieben wurde.
(Vor dem Krieg gehörte es zu Österreich.)
„Die Marschallin“ beginnt mit Paukenschlägen:
Da wird vom Hass auf die Mutter geredet und davon, dass diese eine Verräterin sei.
Da wird davon erzählt, dass die Mutter ihre Kinder verlässt und fünf Monate später schwanger zurückkehrt.
Da wird der gerade mal wenige Monate zurückliegende 1. Weltkrieg, insbesondere der italienisch-österreichische Bergkrieg, erwähnt.
Da wird auf die beschwerliche 2wöchige Flucht vor den Italienern zu Beginn des Krieges zurückgeblickt.
Da wird davon erzählt, dass Kinder beim Spielen Munition finden und schwer verletzt werden.
Dieses erste Kapitel ist, wie sich jetzt vermutlich jeder vorstellen kann, ein fulminanter und dramatischer Einstieg.
Aber es endet versöhnlich, denn Zora, die 21jährige Lastwagenfahrerin, die verantwortlich ist für den Abtransport von Kriegsschrott zur Deponie, lernt in einem Krankenhaus, in das sie ein verletztes Kind bringt, ihren zukünftigen Mann Pietro, einen 23jährigen rothaarigen Sizilianer, kennen, der dort als Arzt arbeitet.
Im weiteren Verlauf erleben wir Pietro in Berlin. Er arbeitet gerade in der Charité und spezialisiert sich in Radiologie. Wir lernen drei Kommilitonen kennen und begleiten sie und Pietro durch ihren Alltag.
Pietro plant, in Kürze in Süditalien eine radiologische Abteilung zu eröffnen.
Aber nicht nur das.
Zora hat ihm den Kopf verdreht.
Sie sind inzwischen verlobt und planen, bald zu heiraten.
In Neapel gründen sie eine Familie und jetzt, Mitte der 1920er Jahre, haben sich Mussolini und die Faschisten schon einen gravierenden Einfluss verschafft.
Dann lernen wir Pietros Vater Giuseppe kennen, der noch immer auf der Insel Ustica, die Heimat von Pietros Familie, lebt.
Giuseppe ist dort inzwischen Bürgermeister. Auf die Insel werden Regimegegner, politische Gefangene und Kriminelle abgeschoben bzw. verbannt und auch Giuseppe, der seine anpackende, aufmerksame, diskussionsfreudige und selbstbewusste Schwiegertochter Zora bewundert, wird von den Faschisten argwöhnisch beobachtet.
Dann schwenkt die Kamera wieder zurück zu den kommunistisch gesinnten Eheleuten Pietro und Zora.
Sie leben nun mit ihren inzwischen drei Söhnen in der Hafenstadt Bari.
Dort haben sie sich einen noblen Palazzo bauen lassen, in dem Wohnung und Privatklinik untergebracht sind und den die in viele Richtungen interessierte und begabte Zora selbst entworfen hat.
Auch Pietros Vater Giuseppe, inzwischen ein imposanter und von Frauen umschwärmter Witwer, lebt seit seiner Flucht von Ustica in Bari.
Als Leser taucht man ein in die Welt der Protagonisten, in der Faschismus und Nationalsozialismus eine immer größere Rolle spielen.
Der zweite Weltkrieg naht…
Über Jahrzehnte hinweg erlebt man politische Geschehnisse und Entwicklungen und Veränderungen der Protagonisten.
Am besten lernt man dabei Zora kennen, die, schon immer allseits interessiert, engagiert und anpackend, immer politischer und kämpferischer wird, wohingegen sie mit ihrer weiblichen oder mütterlich-warmherzigen Seite mehr und mehr „auf Kriegsfuss“ steht.
Sie ist eine Frau auf Zack, die gern das Ruder in die Hand nimmt.
Ihr Mann Pietro wiederum engagiert sich mehr und mehr für die Medizin. Auf dem Gebiet der Radiologie ist der Arzt zur Koryphäe avanciert und er steigt immer tiefer in die Forschung ein.
Es gibt in dem Roman vieles zum Staunen:
Ich habe bis dato z. B. noch nie von Automaten gehört, die Briefpapier auswarfen und ich war ziemlich baff, zu lesen, dass in Süditalien schreiende Säuglinge mit gezuckertem und angewärmten Rotweischorle beruhigt wurden.
Ich erfuhr viel Neues, z. B. dass es unter Mussolini eine Junggesellensteuer und einen Tag der Treue („Oro per la Patria“ = „Gold für’s Vaterland“) gab. Verrückt und interessant!
Dass Homosexuelle auf die Insel San Domino verbannt wurden, „damit sie keine Unruhe stiften und arglose junge Männer verführen konnten“ (S. 154) war mir bis zur Lektüre dieses Werks auch nicht bekannt.
Es gibt neben allem Ernsthaften auch einiges zum Schmunzeln.
Was mir besonders gefällt, sind die Einschübe in Klammern: Gedanken, Kommentare, Erklärungen, konkretisierende Bemerkungen… ernsthaft, ironisch, sarkastisch oder witzig.
Um „die Marschallin“ zu mögen, sollte man sich grundsätzlich für Politik und Geschichte interessieren und kein Problem damit haben, zu recherchieren.
Der Roman ist eine interessante, unterhaltsame Lektüre, die den Horizont erweitert.
Er ist kein leichter Lesestoff für zwischendurch oder vor dem Schlafen, sondern anspruchsvolle, interessante und unterhaltsame Literatur für Stunden, in denen man fit genug ist, um sich zu konzentrieren und in denen man Lust hat, über den Tellerrand zu schauen.
Für mich war es ein Highlight!
4/5⭐️
Hallo Susanne,
auch für mich war dieser Roman ein Highlight. Da sind wir mal wieder einer Meinung.
Meine Vorliebe gilt eh Romanen, in denen Historie anhand von ( fiktiven) Personen lebendig wird. Hier haben wir es ja mit einer realen Figur zu tun, der Großmutter der Autorin. Eine faszinierende, aber nicht immer sympathische Protagonistin. Zora del Buono hat eine großartige Familiengeschichte erzählt, in der der Leser außerdem jede Menge über Italien unter Mussolini und über Jugoslawien erfährt. Ich könnte mir vorstellen, das das Buch auf der Nominierungsliste für den Schweizer Buchpreis erscheint.
Liebe Grüße
Ruth
Liebe Ruth,
so geht es mir auch. Die Geschichte wird lebendig , ich fühle mich gut unterhalten und ich lerne dazu. Ich glaube auch, dass dieser Roman Potential für den Schweizer Buchpreis hat. Ob er wohl im Schweizer Literaturclub besprochen wird?
Herzliche Grüße und danke für Deine Gedanken!