Wenn wir das Buch aufschlagen, tauchen wir ein in das Paris von 1885.
Wir befinden uns in der Salpêtrière, einer Nervenheilanstalt für geisteskranke (und unbequeme) Frauen, die noch nicht gänzlich von ihrem Ruf befreit ist, „eine Mülldeponie für all jene, die die öffentliche Ordnung gefährdeten, eine Anstalt für Frauen, deren Empfindungen nicht den Erwartungen entsprachen, ein Gefängnis für diejenigen die sich einer eigenen Meinung schuldig gemacht hatten“, zu sein.
(Kindle, Pos. 339/341)
Wir werfen einen Blick in das Auditorium, in dessen Bänken ein ausschließlich männliches, sensationsgieriges Publikum aus Medizinern, Studenten, Journalisten, Schriftstellern, Politikern und Künstlern sitzt und gespannt auf den berühmten Nervenarzt Charcot wartet.
Charcot präsentiert und demonstriert in seinen legendären wöchentlichen öffentlichen Lehrveranstaltungen dem interessierten Publikum Patientinnen, die unter Hypnose schwere hysterische Anfälle erleiden, die durch Druck auf die Eierstöcke, durch Betäubung mit Äther oder durch ähnlich skurrile oder brutale Maßnahmen beendet werden sollen.
Es geht dabei v. a. um Ruhm, Erfolg und Wissenschaft und erst in zweiter Linie um Heilung. Die Frauen werden als reine Forschungsobjekte betrachtet.
Wir lernen Geneviève, Louise und Eugénie kennen und begleiten die drei Frauen ein Stück auf ihren Lebenswegen, die sich in gewisser Weise kreuzen.
Wir begegnen dabei auch Thérèse, einer langjährigen Insassin der Salpêtrière und en passant erfahren wir so einiges zur Geschichte dieses berühmten Krankenhauses.
Louise, eine 16-jährige junge Frau, die seit drei Jahren zusammen mit anderen Hysterikerinnen in einem speziell für sie eingerichteten Trakt eingesperrt ist, da sie als verrückt und geisteskrank gilt, will Charcot zufriedenstellen und eines Tages durch ihre Darbietungen in Hypnose berühmt werden.
Die Krankenschwester und Oberaufseherin Geneviève, Tochter eines Landarztes in der Auvergne, bewundert Charcot und ist stolz und dankbar, für ihn arbeiten zu dürfen.
Sie arbeitet schon seit 20 Jahren in der Salpêtrière und bewohnt ein kleines bescheidenes Zimmer in der sechsten Etage eines Wohnhauses, in dem sie sich eine Waschgelegenheit auf dem Flur mit mehreren anderen Frauen teilt.
Sie verrichtet in der Nervenanstalt ernüchtert, distanziert, streng, zuverlässig und gerecht ihre Arbeit.
Regelmäßig schreibt sie Briefe an ihre geliebte, aber bereits verstorbene Schwester Blandine.
Die 19-jährige Eugénie ist die Tochter der privilegierten, gutbürgerlichen und wohlhabenden fünfköpfigen Familie Cléry.
Sie ist eine selbstbewusste, freiheitsliebende, lebensfrohe, kluge, provokante und rebellische junge Frau, die sich den gesellschaftlichen Konventionen und den Vorstellungen ihres Vaters, einem Patriarchen und stockkonservativen Notar mit eigener Kanzlei, widersetzt.
In ihrer Großmutter, die mit ihnen zusammenlebt, sieht sie eine Verbündete und mit ihrem Bruder, dem „linientreuen“ Théophile verbindet sie ein eher freundlich-distanziertes, als zärtliches Geschwisterverhältnis.
Eugénie hat seit ihrem zwölften Lebensjahr Visionen, was sie selbst als vorübergehende psychische Störung betrachtet.
Immer wieder sieht sie bekannte oder fremde Verstorbene und hört deren Stimmen, was sie aber aus gutem Grund für sich behält. Ihr ist klar, dass die Salpêtrière droht, wenn es bekannt wird.
Victoria Mas bettet wahre Begebenheiten und reale Personen des ausgehenden 19.Jahrhunderts in eine spannende fiktive Geschichte ein, die sie lebendig, locker und leicht in einer klaren, ausdrucksstarken und schnörkellosen Sprache erzählt.
Der Debütroman, den sie auf diese Weise erschaffen hat, ist kurzweilig, unterhaltsam und interessant.
Die Thematik um die es geht, ist berührend, empörend, macht sprachlos und regt zum Nachdenken an… v. a., wenn man sich bewusst macht, dass es noch gar nicht allzu lange her ist, dass Frauen v. a. von Männern auf eine derart empörende und menschenverachtende Art und Weise behandelt, mundtot gemacht, ihrer Freiheit beraubt und „entsorgt“ wurden.
Der Autorin gelingt es, ein schweres Thema mit einer Leichtigkeit zu behandeln, die ihresgleichen sucht.
Ich habe „die Tanzenden“ gern gelesen und empfehle ihn ebenso gern weiter.
4/5⭐️