Sayaka, Murata: Das Seidenraupenzimmer

„Sich den außerirdischen Blick herunterladen, um zu sehen, wie die Welt wirklich ist“ – ein brillantes Werk, in dem real Mögliches und Phantastisches gekonnt vermischt werden!

Die Ich-Erzählerin Natsuki ist zu Beginn des 256-seitigen Romans 11 Jahre alt.
Mit ihren Eltern und ihrer zwei Jahre älteren Schwester Kise fährt sie wie jeden Sommer zum Ahnenfest (Obon-Fest) zu den Großeltern, die in den Bergen von Akishina wohnen. Dort wird sich die Verwandtschaft väterlicherseits treffen.

Schon im Auto verspürt Natsuki Vorfreude auf ihren geliebten Cousin Yu.

Der Leser wird im Folgenden mit einem rührenden und herzerwärmenden Rückblick der beginnenden Liebe zwischen Natsuki, einem „Magical Girl“ und Yu, einem „Außerirdischen“, überrascht.

Natsuki fühlt sich ihrer Familie nicht zugehörig. Ihre Mutter, die ihre Schwester Kise bevorzugt, ist desinteressiert, verständnislos und behandelt Natsuki lieblos und abfällig.

Es ist eine große Wiedersehensfreude, als sich Natsuki und Yu in dem Bergdorf endlich wieder treffen. Sie hatten große Sehnsucht nacheinander.

Im Haus ihrer Großeltern bewohnt Natsuki das Seidenraupenzimmer, den Raum, in dem früher Seidenraupen in Bambuskörben gezüchtet worden waren.

Vor dem Abschied, der verfrüht stattfindet, weil Kise krank wird, „heiraten“ Natsuki und Yu auf dem Friedhof, weil sie in dem Bündnis ein Gegengewicht zu ihren jeweiligen Familien sehen, in denen sie sich nicht wohl fühlen.

Natsuki und Yu flüchten sich in eine sichere und glückliche Phantasiewelt, weil ihre reale familiäre Welt so herzlos und kalt ist:
Der „Ausserirdische“ Yu und das „Magical Girl“ Natsuki finden als „verheiratetes Paar“ die Sicherheit und Geborgenheit, die ihnen fehlt und nach der sie sich sehnen.

Wieder zu Hause in Chiba, einer japanischen Großstadt in der Nähe von Tokio, denkt Natsuki seltsam distanziert, entmenschlicht und nüchtern-biologisch über die Menschheit, Paare, Familiengründung und Kinder nach.

Der Leser lernt schließlich Natsukis Lehrer Herrn Igasaki kennen, der ein allzu großes Interesse an ihr hat und der Leser erfährt, wie gemein Natsuki von ihrer aggressiven Mutter und von ihrer verzogenen und hysterischen Schwester behandelt wird.

Gedanken an und Vorfreude auf Yu, den sie beim nächsten Ahnenfest wieder treffen wird, trösten und beruhigen sie:
„Aber meine Liebe zu ihm hielt mich aufrecht. Der Gedanke daran wirkte wie ein Schmerzmittel.“ (Kindle, Kapitel 2, Position 597)

Natsuki schlängelt sich durch ihre Welt, indem sie nüchtern und sachlich über die Realität denkt, sich emotional in ihrer Phantasiewelt einkuschelt und lernt, „ihren Körper zu verlassen“.
Ein „Magical Girl“ zu sein und „zaubern“ zu können hilft ihr, den Alltag zu meistern.
Ihre Phantasie gibt ihr Mut, Kraft und Erklärungen, die sie dringend braucht, um alles durchzustehen.

Zeitsprung, 23 Jahre später:

Inzwischen ist Natsuki 34 Jahre alt und mit Tomoobi verheiratet. Das Paar lebt recht zurückgezogen und führt eine respektvolle, gleichberechtigte, aber distanzierte Beziehung.
Natsuki hat für sich endlich eine Möglichkeit gefunden, relativ unabhängig und frei zu leben – eine unbedingte Notwendigkeit nach ihrer schwierigen und belastenden Biografie.

Eines Tages entscheiden sich Natsuki und ihr sonderbarer Mann Tomoobi für eine Reise nach Akishina. Sie wollen einige Zeit im Haus der inzwischen verstorbenen Großeltern verbringen. In dem Haus, in dem nun Yu wohnt…

Vor dem Hintergrund an Abwertungen, Lieblosigkeiten und Grenzüberschreitungen verwundert es nicht, dass Natsuki eine ausgeprägte Selbstwertproblematik hat und sich als Versagerin fühlt.
Es ist nachvollziehbar, dass sie sich deplatziert und überflüssig fühlt, dass sie ihren Gefühlen nicht traut und an sich zweifelt und dass sie sich an einen anderen Ort – auf den Heimatstern ihres „außerirdischen“ Ehemanns Yu – wünscht.
Psycho-logisch ist auch, dass sie, weil sie ihrem „Sein“ keinen Wert beimisst, bestrebt ist, ihre vermeintlichen Funktionen als Mitglied der Gesellschaft perfekt zu erfüllen, um wenigstens über dadurch erhaltene Wertschätzung eine Existenzberechtigung zu haben, einen Platz in der Welt zu finden und ihr inneres Gleichgewicht zu stabilisieren.

Erleichternd und wohltuend lesen sich Passagen, in denen Oma, Onkel, Freundin oder Lehrerin dem Mädchen Freundlichkeit und Wohlwollen entgegenbringen.

Es ist interessant, einen Einblick in einen japanischen Alltag und in den Brauch des alljährlich stattfindenden Ahnenfestes zu bekommen, an dem, ähnlich wie an Allerheiligen, der Toten gedacht wird.

Von der kulinarischen Gepflogenheit, in Sojasoße zubereitete Heuschrecken zu essen, zu erfahren, ist gleichermaßen spannend wie befremdlich.
Sie sollen wohl knusprig und süß schmecken 😉
Misosuppe und Sobanudeln erscheinen da schon vertrauter.

Es gefiel mir, etwas über Seidenraupen zu erfahren und immer wieder über typische japanische Begriffe wie Hikikomori oder Kotatsu zu stolpern.

Es geht in dem Roman um erschwerte Entwicklungsbedingungen (abwertende, desinteressierte, verständnislose gewalttätige Eltern, Mobbing, Missbrauch) und welche Folgen sie nach sich ziehen können.
Es geht um Macht und Ohnmacht, um Normen, Tabus und Rollenklischees, um Erwartungsdruck, Anpassung und Unterwerfung, sowie um Funktion und Wert des Menschen.
Und es geht um Strategien, all das auszuhalten:
Funktionieren, gehorchen und sich anpassen, emotional abstumpfen, rebellieren, sich auf ein freudiges Ereignis in der Zukunft freuen, „zaubern“ und sich „wegbeamen“.

Sayaka Murata konfrontiert den Leser nicht nur mit der Macht des Staates, der Gesellschaft, der Familie, der Eltern und mit der Ohnmacht und dem Ausgeliefertsein der Kinder, sondern auch mit der familiären und elterlichen Einmischung ins Leben der erwachsenen Kinder.

Kann man sich heimlich durch vorgetäuschte Anpassung dieser Macht entziehen?
Sollte man sich unterwerfen und mitspielen oder aktiv und offen aufbegehren und seinen eigenen Weg gehen?

Die Autorin hat diese Themen in eine packende Geschichte eingebettet und mit wunderbaren Metaphern und Begrifflichkeiten versehen.

Sie löst mit ihrer Geschichte Empörung und tiefes Mitgefühl, ungläubiges Staunen, Verwunderung, Ekel, Gänsehaut, Entrüstung und Wut aus – ein beklemmender und gleichzeitig fesselnder Roman.
Man möchte das Buch zuschlagen und gleichzeitig weiterlesen.

„Das Seidenraupenzimmer“ ist, wie auch schon „die Ladenhüterin“ ein brillantes, ernsthaftes, aufwühlendes und beklemmendes Werk, das mich aufgrund der scharfsinnigen Beobachtung, der psychologisch treffenden, realitätsgetreuen und tiefgründigen Beschreibungen, der leicht und flüssig zu lesenden, bildlichen und wuchtigen Sprache und dem fesselnden Inhalt überzeugte.

Eine Vorstellung von ihrer eindrücklichen und intensiven Art zu schreiben, gibt folgender Absatz:
„Aber da ich mein Herz abgeschaltet hatte, spürte ich nichts und wartete still, dass die Zeit verging. Wie in einer in der Erde vergrabenen Zeitkapsel eingeschlossen, ertrug ich alles reglos, so gelang es mir, mit knapper Not, mein Leben für die Zukunft zu bewahren.“ (Kindle, Kapitel 2, Position 706)

M. E. weist die Autorin mit ihrem Werk implizit auf die Notwendigkeit und Bedeutsamkeit hin, immer wieder mal einen Schritt zurückzutreten und die Dinge aus einer gewissen Distanz bzw. mit anderen Augen, z. B. mit den Augen eines „Außerirdischen“ zu betrachten. Nur dann ist es möglich, den Kurs zu verändern und wirklich seinen eigenen Weg zu erkennen.
Sie versäumt aber auch nicht aufzugreifen, dass es sich möglicherweise einfacher lebt, wenn man sich unreflektiert anpasst und so tief in das „Spiel der Gesellschaft“ eingetaucht, dass man gar nicht mehr auf die Idee kommt, die Regeln zu hinterfragen.
Eigenverantwortlichkeit und Freiheit kann schwieriger sein, als Rollen/Funktionen zu erfüllen und zu gehorchen. All das kann Halt geben und davor schützen, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Im folgenden Satz wird das wunderbar zum Ausdruck gebracht:
„Ich habe zwar meine Freiheit bekommen, aber ich bin so schlecht darin, frei zu sein. Anders als bei einem Befehl gibt es keinen Wegweiser.“ (Kindle, Kapitel 6, Position 2685)

Die Autorin zeigt m. E. indirekt auch auf, dass weder totale Unterordnung und Selbstaufgabe noch Anarchie anzustreben sind.

Gegen Ende würden wahrscheinlich manche Leser sagen, dass die Geschichte abgedreht, irreal und fantastisch wird und dass die Phantasie mit Sayaka Murata durchgegangen ist.
Ich las diese Stellen als große, eindrückliche Metapher sowie als Gedankenexperiment.

Mein Votum:
Absolute Leseempfehlung für Leser, die auch vor ernsthaften, beklemmenden und empörenden Geschichten, die aufwühlen und nachwirken, stellenweise ins Phantastische oder Absurde abdriften und Thriller- bzw. Horrorelemente enthalten, nicht zurückschrecken .

Sayaka Murata präsentiert mit dem „Seidenraupenzimmer“ keine leichte Kost.

Deshalb sehe ich, was das Lesepublikum betrifft, Einschränkungen:
Labile oder zart besaitete Menschen sollten sich gut überlegen, ob und wann sie den Roman lesen wollen, da es schockierende, eklige, makabre und brutale Stellen gibt, die, weil es eben weder Krimi noch Thriller ist, besonders nahe gehen.

Meines Erachtens eignet sich das Werk wegen der Triggergefahr nicht für Menschen mit Missbrauchserfahrung.

Wenn jemand gar nichts mit phantastischen Gedankenspielen anfangen kann, ist das Buch vielleicht auch nicht das Richtige, weil gegen Ende so Einiges absurd und abgedreht erscheint.

Für alle Anderen, die sich auf das Abenteuer dieser Lektüre einlassen, wird es vermutlich wie für mich ein großes Lesevergnügen sein!

5/5⭐️

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