Simenon, Georges: Der Bananentourist

In dem Buch offenbart sich eine hochaktuelle Thematik obwohl es schon 1937 geschrieben wurde: fehlendes Zugehörigkeitsgefühl, Flucht aus dem subjektiv beklemmenden und unpassenden Milieu und Suche nach dem richtigen Platz im Leben.

Es geht um einen gescheiterten Selbstbehandlungs- und Heilungsversuch und um einen fassadären und empörenden Mordprozess.

Gleich zu Beginn möchte ich darauf hinweisen, dass „Der Bananentourist“ der zweite und gleichzeitig letzte Teil der Donadieusaga, beginnend mit „Das Testament Donadieu“ ist.
Mir wurde das erst beim Lesen des Nachworts klar 😉
Man kann daraus ablesen, dass es ohne Weiteres möglich ist, diesen Roman als unabhängigen Band zu lesen und zu genießen.
Da er mir aber so gut gefallen hat, werde ich mir nun auch noch den ersten Teil gönnen 🙂

Seit 37 Tagen ist das Schiff Ile-de-Ré unterwegs. In Marseille ging es los. Tahiti ist das Ziel.

Der 25-jährige introvertierte, unsichere und menschenscheue Oscar Donadieu, der Sohn eines verstorbenen, wohlhabenden und angesehenen Reeders aus Frankreich, hat beschlossen, als sog. Bananentourist auf Tahiti „ein natürliches Leben ohne Geld, ohne Zwänge, in idealer Umgebung“ (Kindle, Pos. 2328) zu leben.
Dieser Entschluss ist eine Flucht und ein kontraphobischer Kraftakt Oscars, um seine Neurose und das Vergangene zu überwinden.

Auf der Schiffsreise macht er täglich seine gymnastischen Übungen und verbringt seine Zeit am liebsten allein. Manchmal spielt er mit dem Missionar Schach.

An einem Sonntag wird der Kapitän eines anderen Dampfers auf der Ile-de-Ré aufgenommen.
Er hat einen Mord begangen, soll nach Tahiti gebracht und dort in der Hauptstadt Papeete vor Gericht gestellt werden.
Anfang Februar legt das Schiff in Tahiti an, wo es in Strömen regnet.

Wir begleiten Oscar, lernen seine neuen Bekannten kennen und tauchen in den Prozess um den Eifersuchtsmord des 50-jährigen Kapitäns Lagre an seinem Dritten Offizier Riri ein.

Es ist unterhaltsam, beeindruckend und interessant, den Protagonisten Oscar näher kennen zu lernen, etwas von seiner Geschichte zu erfahren, in seine Gedankenwelt einzutauchen und seinen Erlebnissen, sowie seinen inneren Entwicklungen und Veränderungen auf der Pazifikinsel zu folgen.

Die Lektüre verschafft anschauliche, interessante und empörende Einblicke in die zum Teil haarsträubenden damaligen kolonialen Verhältnisse auf Tahiti.

Von den teilweise oberflächlichen, fassadären, korrupten und missbräuchlichen Begebenheiten und Gepflogenheiten im Alltag der Inselbewohner zu lesen, ist erschreckend.
Man verspürt Verwunderung und Entrüstung, was den Umgang mit eingeborenen Mädchen und Frauen, das abgekartete Spiel einer Verhandlung oder die Farce einer Verurteilung anbelangt.

Georges Simenon schreibt in einer schönen, lebendig und locker dahinfließenden, bildhaften Sprache. Man kann sich Orte und Menschen lebhaft vorstellen:
Die Kokospalmen, den Wasserfall, die Kneipen, das Markttreiben, die zu Bussen umgebauten, mit Eingeborenen vollbeladenen LKWs und die mit Touristen überquellenden Schiffe, die alle paar Wochen auf Tahiti anlegen.

Der Autor erschafft einen gleichermaßen unterhaltsamen und kurzweiligen, wie interessanten und tiefgründigen Roman, der raffiniert und differenziert komponiert ist.
Die Spaltung in einen inneren, nach Idealen strebenden und in einen äußeren, angepassten, mut- und hoffnungslosen Donadieu zeigt die Ambivalenz und innere Zerrissenheit des Protagonisten, der alles andere als flach oder eindimensional gezeichnet wird.

Melancholie durchzieht die Geschichte wie Hintergrundmusik.
Im Vordergrund stehen einerseits das verzweifelte Ringen des Protagonisten um Heilung und das ärmliche, assimilierte und z. T. hoffnungslose Schicksal der Einheimischen, sowie andererseits das oberflächliche, vor Lebenslust strotzende und vermeintlich sorglose und unbeschwerte Leben der gut betuchten, tonangebenden und hedonistischen Kolonialisten.

Klare Leseempfehlung!

5/5⭐️

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.